Das Gesicht ist ein privilegierter Ort, Maß des menschlichen Ausdrucks schlechthin. Anti-Portraits gehören zum Repertoire künstlerischen Schaffens seit der Moderne. In seiner Werkgruppe „All-in-One“ operiert Helzle mit der Poetik der Leere. Die Dargestellten, so scheint es, haben ihr Gesicht verloren –„defacement“ steht neben „refacement“. In Gesichtsschnitten und Montagen geht es dem Künstler um Sichtbarmachung und Abstraktion - die Suche nach dem Gesicht hinter dem Gesicht.
Helzles Serie zeigt zwölf Frauen in aufrechter Haltung, 60 x 80 cm, vermeintlich klassische Brustbilder, überlebensgroß. Landschaftsfotografie verfremdet ihre ruhigen Züge - als hätten sie ein zweites Gesicht, eine neue Haut erhalten, umspielen Äste und Rinden gleich feinen Adern ihre Sinne.
In den Bildern wird sichtbar, was sie sahen, der Künstler legt es über sie wie eine zweite Haut. Im Spannungsfeld von konturiertem Antlitz und schemenhaftem Sein entstanden zwölf geheimnisvolle weibliche Büsten, deren frontale Ausrichtung und blockhafte Geschlossenheit eine fast sakrale Wirkung besitzt. Orte liegen über ihren Zügen, verbergen die Mimik, offenbaren Gedanken und entgleiten doch. In den jeweils drei Stunden, die der Künstler mit den Frauen verbrachte, entstanden Landschaftsaufnahmen und Portraitfotografien. Den Ort bestimmten sie. Den Winterwald. Die Stadt, ein Museum – ihren Lieblingsplatz. Diesen legte er als Folie über ihre Züge und entlockte den Gesichtern Momente beunruhigender Schönheit. Vibrierend wird das Antlitz der Frauen von Innerem bedeckt – jedes Gesicht ist eine Landschaft.
Helzles Kompositionen erzählen in den Farben des Herbstlaubes, des Schnees und des Eises von verwundeter, erfrorener Natur, sanft schwingenden Tälern, eisigen Abgründen und verwunschenen Spiegelungen auf ruhigem See.
Über das vermeintlich Mimische hinaus vermitteln horizontale und vertikale Schübe uns das Gefühl, die Gesichter dehnten sich aus - noch weit über den Bildraum hinaus. Schneeverwehungen werden zu Mündern, Nebelbänke und einbrechende Nacht suggerieren Blicke voller Geheimnis. Bäume wachsen wie aus dem Nichts und verrätseln die Tiefe des Blicks. Mit schwindelerregenden Verdrehungen und Verkehrungen vermeintlich festgefügter Orte und Standpunkte zielt Helzle auf ein Paradoxon: den existentiellen Widerspruch von Eigenem und Fremdem. Indem man das Andere erfährt, erkennt man sich selbst.
In den Gesichtern lockt der Horizont, der eine Tiefe suggeriert, aber ein Weitergehen verwehrt. Sie wirken, als ließen sie etwas hinter sich, als hätten sie ihren festen Standort verlassen. Sie verharren auf einer Schwelle. Richtet sich ihr Blick ins Grenzenlose?
In ihnen kommt ein geistiger Ort zum Vorschein, der die Träume, das utopische Potenzial reflektiert, das uns antreibt. Mit konventionellem Portraitbegriff lässt sich die Serie nicht fassen. In den Bildern wird das Gesicht zum offenen Raum. Es sind Schemen, in denen man das vermeintlich wahre Antlitz sucht.
Kunst, so Wolf Helzle, ist es, den fremden Raum als eigenen zu erkennen. Man sollte von Meta-Portraits sprechen.
Ricarda Geib, Kunsthistorikerin