media artist

Homo rottenburgensis

Ein Kunstprojekt von Wolf Nkole Helzle zum Sommerfest 2011 des Künstlerhofs Rottenburg mit Beteiligung von 100 Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Rottenburg

Hört oder liest man den Titel dieses Kunstprojektes zum ersten Mal, stellt sich vermutlich meist unmittelbar die Frage: Wer oder was ist dieser „Homo rottenburgensis“? Wie sieht es aus? Und was hat es mit mir, was hat es mit Rottenburg zu tun?

Assoziationen an natur- und geschichtswissenschaftliche Untersuchungen, an fossile Funde längst ausgestorbener Vorfahren unserer Menschengattung werden geweckt und lassen uns über die menschlichen Ursprünge innerhalb der Evolution und die seit dem vollzogenen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen nachdenken.

Und so handelt es sich bei dem fotografischen Projekt des Medienkünstlers Wolf Nkole Helzle auch tatsächlich um eine Art Forschungsprojekt, bei dem es zwar nicht um die Entschlüsselung unserer Urahnen, jedoch um einen wesentlichen Kern der Weltbevölkerung geht. Denn ein zentrales Thema seiner künstlerischen Auseinandersetzung ist die Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv: „Wie kann ich das Verhältnis verstehen zwischen mir als Individuum und der Menschheit insgesamt, diesen mehr als 7 Milliarden Menschen?“

Um sich im wahrsten Sinne des Wortes „ein Bild“ von diesen Zusammenhängen zu machen, verfolgt der Künstler schon seit Mitte der 90er Jahre ein groß angelegtes, performatives Projekt unter dem titelgebenden Motto: „… und ich bin ein Teil“. Innerhalb dessen sammelt er weltweit, bei verschiedenen Anlässen Gesichter von Menschen – sei´s im Kunstkontext oder in einer Kirche, einem Stadt- oder Firmenevent, oder aber auch von zufällig vorbeikommenden Passanten auf einer Straße – die sich bei einem kurzen Shooting, in frontaler Ansicht und vor schwarzem Hintergrund in seiner mobilen Fotostation portraitieren lassen. Der Fokus ist dabei lediglich auf das Gesicht gerichtet. Es entsteht ein reines Kopfportrait, extrahiert aus jeglichen kontextuellen Zusammenhängen, so dass nichts von der jeweils individuellen Physiognomie der Portraitierten ablenkt.

Auf diese Weise hat Wolf Nkole Helzle bis heute ein digitales Archiv von über 25.000  Portraits aus verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Afrikas angelegt und ständig werden es mehr. Diese setzt er in seinen künstlerischen Projekten in immer neuen Beziehungen zueinander, die unter verschiedenen Aspekten auf die globale Gesellschaft und das wechselseitige Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft verweisen.

„Der Zugang zum Kollektiven gelingt nur über das Individuelle, denn das Kollektiv ist ohne Individuum und Individuum ohne das Kollektiv nicht denkbar.“ Für Wolf Nkole Helzle ist das Sammeln von Gesichtern wie eine Verbeugung vor der unendlichen Vielfalt der Menschen, deren Abbilder gemäß der jeweiligen Ausrichtung seiner Werke in seriellen Abfolgen ein gemeinsames Ganzes bilden. (Beispiele dazu finden Sie unter www.helzle.com)

Dieser Leitgedanke liegt auch der Werkserie der „Multiplen Portraits“ zugrunde. In einem speziellen Computerprogramm werden dazu 100 Einzelportraits transparent übereinander geschichtet und bilden so ein „neues“, gemeinsames Gesicht. Die meist gleichnishaft verwendete Formulierung „ein Gemeinwesen bilden“ wird somit beim Wort genommen und in einer idealtypischen Weise anschaulich gemacht. So ermöglicht die Computertechnologie eine absolut gleichberechtigte Überlagerung, oder vielmehr Vereinigung der Portraits, da im digitalen Datenraum weder Reihenfolge, noch Prägnanz eines individuellen Merkmals ein vordergründiges Mehr an Aufmerksamkeit erzeugen. Faszinierend dabei ist, dass durch die Überlagerung die spezifischen Gesichtszüge zwar verwischen, die Übergänge durch die vielen Schichtungen jedoch so weich werden und sich zugleich in markanten Gesichtspunkten wie Augen, Nase und Mund verdichten, dass tatsächlich ein neues, einzigartiges Gesicht von malerischer Qualität entsteht.

Eine solch wundersame Erscheinung blickt uns auch aus dem hier präsentierten, multiplen Portrait des „Homo rottenburgensis“ entgegen. Mit seinem freundlichen Äußeren und den uns scheinbar in jeder Perspektive in Augenschein nehmenden Blick wirkt es sehr lebendig. Zugleich ist es aber in Alter und Geschlecht, sowie in seinem konkreten Gesichtsausdruck nur schwer festzumachen, und während es von einer gewissen Distanz relativ deutlich erscheint, entzieht es sich – je mehr man sich ihm nähert – einer eindeutigen Beschreibung. Entsprechend wirkt es zugleich nah und entrückt, vertraut und doch fremd, hält aber gerade deshalb unseren Blick gefangen und strahlt darin etwas von einer zeitlosen, allgegenwärtigen Präsenz aus.

Während Wolf Nkole Helzle bei den anfänglichen Exemplaren seiner „Multiplen Portraits“ jedoch lediglich Gesichter aus seiner umfangreichen Portraitsammlung verwendete, wurde die Idee 2008 erstmalig im Zusammenhang mit einem konkreten Ort (Donzdorf) aufgegriffen, und in dem Wissen um das vielseitige bürgerliche Engagement und das aktive Gemeindeleben in dem konzeptionell weiterentwickelten, partizipativen Projekt des „Homo donzdorfensis“ umgesetzt. Im Jahr 2011 kamen die multiplen Portraits aus Ogaki (Japan) und aus Bali (Indonesien) hinzu, sowie der "Homo picto-marbourgeois" – als Jubiläumsportrait der Partnerstädte Poitiers (Frankreich) und Marburg (Deutschland) – und das hiesige multiple Portrait des „Homo rottenburgensis“ anlässlich des Sommerfestes des Künstlerhofs Rottenburg.

Bei all diesen Projekten ist „ein Gemeinwesen bilden“ nicht nur allegorisch gemeint, sondern auch in der tatsächlichen Umsetzung gefordert. So wurden, um sowohl im eigentlichen als auch im übertragenen Sinn ein möglichst „vielschichtiges Bild“ der jeweils ortsansässigen Bevölkerung zu erhalten, 100 Bürgerinnen und Bürger aus verschiedenen Gruppierungen (Vereine, Kirchengemeinden, Schulen, Betriebe etc.) eingeladen, sich an dem Gemeinschafts-Projekt zu beteiligen. Dazu waren die Gruppen gebeten, selbst die Auswahl ihrer Repräsentanten zu treffen und dabei auch auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Vertretern zu achten.

In dem jeweils fertig gestellten Werk, bzw. der folgenden Ausstellung, sind die so erwählten Personen jedoch gleichsam in doppelter Weise vertreten, indem deren Portraits zum einen in das vielschichtige, multiple Portrait einfließen und zum anderen als Einzelportraits gewürdigt werden. Und während beispielsweise das multiple Portrait des „Homo rottenburgensis“ nach Abschluss der Präsentation im Künstlerhof Rottenburg verblieb, wanderten einige der 100 Einzelportraits in die entsprechenden Haushalte, Vereinsräume o.ä. und verweisen somit über die Stadt verteilt auch weiterhin aufeinander, auf das Projekt und dessen inhaltliches Gedankengut.

Die wesentliche Aufgabe eines Portraits ist es, neben einer körperlichen Ähnlichkeit auch das Wesen, bzw. die Persönlichkeit der portraitierten Person zum Ausdruck zu bringen und auf diese Weise in Erinnerung zu halten. Die Fotografie verweist darüber hinaus auf einen konkreten Moment, sei´s im zeitlichen Verlauf eines Lebens oder sonstiger Prozesse. Innerhalb des künstlerischen Projektes der multiplen Portraits wird daher anhand der Portraitaufnahmen auch ein performativer Prozess bildhaft gemacht, denn die Fotoaktionen von Wolf Nkole Helzle sind immer auch Interventionen. Der Kontakt mit den Menschen, das Gespräch und der Austausch sind dabei wesentliche Faktoren, und die Fotostation, ebenso wie die Präsentationen, bieten dazu an immer anderen Orten der Welt den Anlass.

Joseph Beuys war es, der den Begriff der „sozialen Plastik“ prägte. Von ihm stammt auch die oft zitierte aber meist missverstandene These „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Innerhalb seiner Auffassung eines erweiterten Kunstbegriffs nutzte er diese Beschreibungen, um seine Vorstellung einer gesellschaftsverändernden Kunst zu erläutern, die besagt, dass jeder Mensch durch kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und dadurch gestaltend, also „plastizierend“, auf die Gesellschaft einwirken kann.

Eben dieses Handeln, dieser kreative Einsatz ist es, was die von Wolf Nkole Helzle portraitierten Menschen miteinander verbindet, und was sich im Gemeinwesen der jeweiligen Orte und in den multiplen Portraits ausdrückt, die ohne den Einsatz einzelner und vieler nicht realisierbar wären. Kreativität, also die geistige Fähigkeit zur Reflexion und damit zum bewussten, selbstbestimmten Tun und Gestalten ist es auch, was den Homo sapiens von seinen tierischen Verwandten unterscheidet und worin letztlich die Ursprünge unserer menschlichen Kultur und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens in all ihren Facetten begründet liegen.

Simone Jung, Kunsthistorikerin, Leiterin des Museum Biedermann in Donaueschingen

Katalog als PDF-Dokument