Texturen der Erinnerung -
Wolf Nkole Helzles fotografische Archive
Katalogtext von Ricada Geib
Simultaneität – Gleichzeitigkeit. Sie entsteht in unserem Bewusstsein, denn eigentlich orientieren wir uns nur an dem, was für unser Auge sichtbar ist. Künstlerische Forschung hingegen öffnet ein weites Feld.
Simultaneität in der Kunst zielt meist auf Strategien der Sinneserweiterung. Gedanken an James Joyce wegweisenden Roman Ulysses werden wach, aber auch in hochmittelalterlichen Altären spielte Simultaneität eine wichtige Rolle. Oszillierende Bildwelten ließen in den Polyptychen eine ästhetische Eigenzeit entstehen. Der Maler Umberto Boccioni schloss sich Anfang des 20. Jahrhunderts den Futuristen an. Was ihn am meisten beschäftigte, war das Phänomen der simultanen Wahrnehmung parallel stattfindender Prozesse. Robert Delaunay und Otto Dix rückten in ihren Kompositionen Zwischenzeiten und dynamisches Verschwinden in den Blick - Simultaneität wurde zum künstlerischen Leitbegriff modernen Aufbruchs. Der Bauhauskünstler Laszlo Moholy-Nagy arbeitete an Mehrkanalprojektionen für ein Theater der Totalität und nahm Konzepte der Medienkunst wie immersive environments und expanded cinema vorweg. Ein eindrucksvolles Beispiel für Simultaneität ist das heute im ZKM Karlsruhe verwahrte Fotogramm-Archiv Heyne Neusüss.
Für die Werkgruppe SIMULTANEITIES öffnet Wolf Nkole Helzle seine Archive.
In Simultandarstellungen zeigt Helzle uns die Welt neu, aus seiner Sicht. Er zeigt uns, wie sie war und zugleich, wie sie sein könnte – in digitaler Synthese verschmelzen Innen und Außen, Gestern und Heute zu einer neuen Zeit. Als dringe die Straße in die Häuser, das Meer ins Gebirge – Fassaden geraten ins Taumeln, menschliche Figuren zersplittern oder werden durchlässig und verlieren sich, eins geworden mit der Welt? Helzle geht es um die Schärfung des Möglichkeitssinns. Die Werkgruppe SIMULTANEITIES zeigt, mit welcher Leichtigkeit der Künstler sich zwischen den Welten von Narration und Abstraktion bewegt. ...
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(c)Wolf Nkole Helzle + VG Bild Kunst
... Wolf Nkole Helzle ist konzeptueller Medienkünstler und prägte den Begriff der social media art für sein im Kern partizipatives Werk. Ihm geht es um das Sehen als Medium der Welterkenntnis – grundlegende Fragen der Wahrnehmung werden in seinem Werk verdichtet. Er arbeitet gleichermaßen spielerisch wie mit großem Ernst, ist neugierig, aber auch voller Geduld. Fragt man ihn, gibt er langsame, wohlüberlegte Antworten.
Gleichzeitigkeit im Rahmen der Globalisierung bedeutet Wettbewerb im Sinne einer Selbst-Ökonomisierung. Der südkoreanisch-deutsche Philosoph Han spricht von einer „flachen, kontinuierlichen Aufmerksamkeit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich“ sei. Entschleunigung und Achtsamkeit sind Konzepte, die Leistungsdruck und Effizienzstreben im Alltag relativieren. In Helzles Werk wird das Moment des ästhetischen Innehaltens dieser gesellschaftlichen Überforderung entgegenstellt.
Seine Projekte müssen verstanden werden als künstlerisches Statement gegen ungebremste Beschleunigung und flache Aufmerksamkeit. Sein neuestes Werk gibt Raum für Beziehungen und macht Strukturen sichtbar, die in der Schnelllebigkeit des Alltags übersehen werden. Die Bilder offenbaren Melodien und Momente der Stille. In ihnen wird selbst das Flirrende zum Zeichen. SIMULTANEITIES ist ein Beitrag zur Kunst des Innehaltens.
Helzle befasst sich mit Erinnerungsstrategien. In einem durch Intuition gesteuerten Auswahl- und Kompositverfahren entwickelt er eine eigene Gedächtnismetaphorik, die in diesem Katalog erstmals vorgestellt wird. Denn erst das Gedächtnis ermöglicht die Erinnerung.
Die Werkgruppe macht die vielschichtigen Erinnerungen des Künstlers sichtbar. Durch digitale Überlagerung spontan ausgewählter Motive entstehen abstrakte, fast immateriell anmutende Kompositionen, die mehr als Aufbewahrungsort von Erinnertem sind. Helzles Bilder verfügen über sanfte Klänge und starke psychische Energien, verstehen sich als Orte der Kommunikation.
Sein Vorgehen gleicht einer Spurensuche. In seiner neuen Serie stehen eigene Reisebilder im Fokus, die den Ausgangspunkt der künstlerischen Forschung bilden. Uns begegnen digital überlagerte Bildräume, horizontale Narration offenbart das Erinnerte in eigener Schönheit. Helzles künstlerische Idee ist die eines visualisierten Offenen Archivs, in dem lineare Zeit und logische Sukzession aufgelöst werden. SIMULTANEITIES geben der Zeit ihre Zeit.
„Beim Durchforsten meines fotografischen Reisetagebuchs bleibe ich immer wieder an einzelnen Bildern hängen. Ich staple sie und in ihrem Zusammenfließen mit anderen Bildern treffen Darstellungen aufeinander, die ‚normalerweise‘ nichts miteinander zu tun haben, also nicht gleichzeitig wahrgenommen werden konnten. So gesehen, könnte man sie vielleicht auch Traumbilder nennen.“
In einem fast rituell entschleunigten Verfahren findet Wolf Nkole Helzle seinen spezifischen Sprachduktus. Er gibt den Bildern ihre Zeit. Gerade sein Zögern und Verweilen auf den Schwellen der Bildbetrachtung lassen die Fesseln, in die Erinnerungen gebunden sind, spüren. Changierend zwischen Ruhe und spannungsvollen Kontrasten gelangt er in SIMULTANEITIES zu einer besonderen Form der Gegenerzählung und bringt komplex Erinnertes zum Leuchten. Ekstatische Sequenzen brechen sich an Szenen von verhaltener Stille. Texturen der Kontemplation und Spiritualität werden sichtbar. Mit fast schmerzender Eindringlichkeit wirken die behutsam zusammengeführten Bilder wie ein fragendes Kreisen. Unweigerlich beginnt man darüber nachzudenken, was wohl geschehen ist, was erinnert wurde und was sich noch ereignen wird?
Durch Überlagerung entstehen neue Räume. Kraftlinien und bruchstückhafte Ausschnitte verwandeln sich in kontingente Bewegungsstudien. In Helzles Zyklus wird das Erinnerte zur Gegenwart. In einem Prozess des Gestaltwerdens und Auslöschens entstehen Bildwelten, in denen Flügel und steile Fassaden, Wasser, Berge, Wind und Wellen schemenhaft aufblitzen – steigende und stürzende Formen beleben die Bildräume. Kreuzende Binnenformen deuten an, was als mögliche Sinnschicht dem Werk zu Grunde gelegen haben könnte. Die Darstellung bleibt meist in gitterhaft durchbrochener Materie amorph, die Interpretation offen. Die feingliedrigen Farbwelten scheinen in sich selbst bewegt, sie suggerieren die Vorstellung von Zeit und Energie, Rhythmus und kreisender Konzentration. In SIMULTANEITIES, wo die Welt am Rande wieder aufgebaut und frei erfunden wird, klingen die Kompositionen wie eine unbekannte Melodie zu dem, was wir kennen. Objekte, Landschaften, Architekturen und Menschen verwandeln sich in Zeichen, gehen auf in der abstrakten Botschaft von Helzles bildnerischer Semantik. Rinnende Zeit, eigentlich ein Charakteristikum der Musik, wird sichtbar. Chromatische Intervalle, Pausen und Ruhepunkte verleihen der Eigendynamik kreativer Prozesse sinnlichen Ausdruck, als wolle der Künstler die Struktur des Gedächtnisses abbilden.
Die Welt, in der wir leben, ist die Welt der Zeichen. Helzles Reisebilder erzählen von urbanen Architekturen und der Psychologie großer Metropolen, von dystopischen Landschaften und menschlicher Begegnung. Mit seinen komplexen Abstraktionen schafft der Künstler somnambule Gleichnisse unserer Zeit. Er visualisiert sie in beseelten Bildräumen, in denen Fläche und Oberfläche, Material, Farbe und Konstruktion sensibel ausgelotet wirken. Kuppeln funktionieren wie bildliche Kürzel oder Lesehilfen und setzen die Assoziation von Sakralbauten frei. Stadtszenarien präsentieren sich als dichtes Gefüge ohne Zwischenräume. Helles Liniengeflecht durchzieht die Kompositionen wie ein graphisches Raster und erzeugt einen spannungsvollen Rhythmus. Aus dunkler Raumstimmung erheben sich Berge und umfassen Architekturen, die transparent und dreidimensional erscheinen.
Das Flüchtig-Abstrakte der Werkgruppe erinnert an Musik, die erzählt, ohne abzubilden. Als Inventionen bezeichnete J.S. Bach Kompositionen, in denen musikalische Einfälle zwei- oder dreistimmig verarbeitet werden. Stimme und Gegenstimme, Frage und Antwort, Form und Gegenform finden hier zusammen. Was bleibt, ist der Eindruck von Bewegung, Vibration und Flüchtigkeit – so, als sei das Dargestellte vor unseren Augen in einer mehrstimmigen, fugenhaften Momentaufnahme eingefangen worden. Wolf Nkole Helzles SIMULTANEITIES beleuchten die spezifischen Dynamiken unseres Lebens in vielschichtigen Erzählungen. Der Künstler aber lässt bewusst Raum für Interpretation. Sein Werk könnte die zunehmende Desorientierung moderner Existenz spiegeln, sein Zeitbegriff aber wirkt wie ein behutsam geflochtenes Band.
Ricarda Geib
Stuttgart, im Januar 2025