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"Homo Donzdorfensis"

Katalog "Homo Donzdorfensis" der Stadt Donzdorf, 2009       

Ein Kunstprojekt von Wolf Nkole Helzle mit Beteiligung von 100 Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Donzdorf

Simone Jung, Dezember 2008

Katalog als PDF-Dokument

Hört oder liest man den Titel dieses Kunstprojektes zum ersten Mal, stellt sich vermutlich meist unmittelbar die Frage: Wer oder was ist dieses „Homo donzdorfensis“? Wie sieht es aus? Und was hat das mit mir, was hat es mit Donzdorf zu tun?
Assoziationen an natur- und geschichtswissenschaftliche Untersuchungen, an fossile Funde längst ausgestorbener Vorfahren unserer Menschengattung werden geweckt und lassen uns über die menschlichen Ursprünge innerhalb der Evolution und die seit dem vollzogenen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen nachdenken.
Und so handelt es sich bei dem fotografischen Projekt des Medienkünstlers Wolf Nkole Helzle auch tatsächlich um eine Art Forschungsprojekt, bei dem es zwar nicht um die Entschlüsselung unserer Urahnen, jedoch um einen wesentlichen Kern der Weltbevölkerung geht. Denn ein zentrales Thema seiner künstlerischen Auseinandersetzung ist die
Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv: „Wie kann ich das Verhältnis verstehen zwischen mir als Individuum und der Menschheit insgesamt, diesen mehr als 6 Milliarden Menschen?“
Um sich im wahrsten Sinne des Wortes „ein Bild“ von diesen Zusammenhängen zu machen, verfolgt der Künstler schon seit Mitte der 90er Jahre ein groß angelegtes, performatives Projekt unter dem titelgebenden Motto: „… und ich bin ein Teil“. Innerhalb dessen sammelt er weltweit, bei verschiedenen Anlässen Gesichter von Menschen – sei´s
im Kunstkontext oder in einer Kirche, bei einem Firmenevent oder von zufällig vorbeikommenden Passanten auf der Straße – die sich bei einem kurzen Shooting, in frontaler Ansicht und vor schwarzem Hintergrund in seiner mobilen Fotostation porträtieren lassen. Der Fokus ist dabei lediglich auf das Gesicht gerichtet. Es entsteht ein reines
Kopfporträt, extrahiert aus jeglichen kontextuellen Zusammenhängen, so dass nichts von der jeweils individuellen Physiognomie der Porträtierten ablenkt.
Auf diese Weise hat Wolf Nkole Helzle bis heute (Dezember 2008) ein digitales Archiv von über 20.000 Porträts aus verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Afrikas angelegt und ständig werden es mehr. Diese setzt er in seinen künstlerischen Projekten in immer neue Beziehungen zueinander, die unter verschiedenen Aspekten auf die globale
Gesellschaft und das wechselseitige Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft verweisen. „Der Zugang zum Kollektiven gelingt nur über das Individuelle, denn das Kollektiv ist ohne die Individuen und die Individuen ohne das Kollektiv nicht denkbar.“ Für Wolf Nkole Helzle ist das Sammeln der Gesichter wie eine Verbeugung vor der unendlichen Vielfalt der Menschen, deren Abbilder gemäß der jeweiligen Ausrichtung seiner Werke in seriellen Abfolgen ein gemeinsames Ganzes bilden. (Beispiele dazu finden Sie unter: www.helzle.com) Dieser Leitgedanke liegt auch der Werkserie der „Multiplen Porträts“ zugrunde. In einem speziellen Computerprogramm werden dazu 100 Einzelporträts transparent übereinander geschichtet und bilden so ein „neues“, gemeinsames Gesicht. Die meist gleichnishaft verwendete Formulierung „ein Gemeinwesen bilden“ wird somit beim Wort genommen und in einer idealtypischen Weise anschaulich gemacht. So ermöglicht die Computertechnologie eine absolut gleichberechtigte Überlagerung, oder vielmehr Vereinigung der Porträts, da im digitalen Datenraum weder Reihenfolge, noch Prägnanz eines individuellen Merkmals ein vordergründiges Mehr an Aufmerksamkeit erzeugen. Faszinierend dabei ist, dass durch die Überlagerung die spezifischen Gesichtszüge zwar verwischen, die Übergänge durch die vielen Schichtungen jedoch so weich werden und sich zugleich in markanten Gesichtspunkten wie Augen, Nase und Mund verdichten, dass tatsächlich ein neues, einzigartiges Gesicht von malerischer Qualität entsteht. Eine solch wundersame Erscheinung blickt uns auch aus dem hier präsentierten, multiplen Porträt des „Homo donzdorfensis“ entgegen. In seinen Ausmaßen von 80 x 80 cm ist es die bislang größte Ausführung innerhalb der Werkserie. Mit seinem freundlichen Äußeren und den uns scheinbar in jeder Perspektive in Augenschein nehmenden Blick wirkt es sehr lebendig. Zugleich ist es aber in Alter und Geschlecht, sowie in seinem konkreten Gesichtsausdruck nur schwer festzumachen, und während es von einer gewissen Distanz relativ deutlich erscheint, entzieht es sich – je mehr man sich ihm nähert – einer eindeutigen Beschreibung. Entsprechend wirkt es zugleich nah und entrückt, vertraut und doch fremd, hält aber gerade deshalb unseren Blick gefangen und strahlt darin etwas von einer zeitlosen, allgegenwärtigen Präsenz aus.
Während Wolf Nkole Helzle bei den vorhergehenden Studien lediglich Gesichter aus seiner umfangreichen Porträtsammlung verwendete, wurde die Idee nun auch erstmalig im Zusammenhang mit einem konkreten Ort aufgegriffen, und in dem Wissen um das vielseitige bürgerliche Engagement und das aktive Donzdorfer Gemeindeleben in einem konzeptionell weiterentwickelten Projekt umgesetzt. – Dabei war „ein Gemeinwesen bilden“ nicht nur allegorisch gemeint, sondern auch in der tatsächlichen Umsetzung gefordert! Um sowohl im eigentlichen als auch im übertragenen Sinn ein möglichst „vielschichtiges Bild“ der Donzdorfer Bevölkerung zu erhalten, wurden daher 100 Bürgerinnen und Bürger aus verschiedenen Gruppierungen (Vereine, Kirchengemeinden, Schulen, Betriebe etc.) eingeladen, sich an diesem Gemeinschafts-Projekt zu beteiligen. Dazu waren die Gruppen zunächst gebeten, selbst die Auswahl ihrer Repräsentanten zu treffen und dabei auch auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Vertretern zu achten. In der Ausstellung, sowie in dem vorliegenden Katalog, sind die so erwählten Personen nun in doppelter Weise vertreten, indem deren Porträts zum einen in das multiple Porträt des „Homo donzdorfensis“ einfließen und zum anderen als Einzelporträts mit kurzen Erläuterungen zur dargestellten Person gewürdigt werden.
Zu einer bewussten Entscheidung für oder gegen eine Mitwirkung an diesem Projekt hat aber sicher auch beigetragen, dass sich die Teilnehmenden (bzw. deren Organisationen) ebenfalls dazu entscheiden mussten, die Einzelporträts zu einem Anteil von je 25,- Euro zu erwerben, wozu drei Sponsoren insgesamt nochmal den gleichen Betrag ergänzten. Denn ein weiterer Aspekt des Konzeptes beruht auf der Zeit nach der Ausstellung: Während das multiple Porträt des „Homo donzdorfensis“ im Schloss Donzdorf verbleibt, sollen die 100 Einzelporträts in den entsprechenden Haushalten, Vereinsräumen o.ä. verortet werden, so dass sie über die Stadt verteilt auch weiterhin aufeinander, sowie auf das
Projekt und dessen inhaltliches Gedankengut verweisen.
Die wesentliche Aufgabe eines Porträts ist es, neben einer körperlichen Ähnlichkeit auch das Wesen, bzw. die Persönlichkeit der porträtierten Person zum Ausdruck zu bringen und auf diese Weise in Erinnerung zu halten. Die Fotografie verweist darüber hinaus auf einen konkreten Moment, sei´s im zeitlichen Verlauf eines Lebens oder sonstiger Prozesse. Innerhalb des künstlerischen Projektes des „Homo donzdorfensis“ wird daher anhand der Porträtaufnahmen auch ein performativer Prozess bildhaft gemacht, denn die Fotoaktionen von Wolf Nkole Helzle sind immer auch Interventionen. Der Kontakt mit den Menschen, das Gespräch und der Austausch sind dabei wesentliche Faktoren, und die Fotostation, ebenso wie die Präsentationen, bieten dazu an immer anderen Orten der Welt den Anlass. Joseph Beuys war es, der den Begriff der „sozialen Plastik“ prägte. Von ihm stammt auch die oft zitierte aber meist missverstandene These „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Innerhalb seiner Auffassung eines erweiterten Kunstbegriffs nutze er diese Beschreibungen, um seine Vorstellung einer gesellschaftsverändernden Kunst zu erläutern, die besagt, dass jeder Mensch durch kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und dadurch gestaltend, also „plastizierend“, auf die Gesellschaft einwirken kann.
Eben dieses Handeln, dieser kreative Einsatz ist es, was die Menschen der hier präsentierten Porträts kraft ihres bürgerlichen Engagements miteinander verbindet, und was sich im Gemeinwesen der Stadt Donzdorf, sowie im multiplen Porträt des „Homo donzdorfensis“ ausdrückt, das ohne den Einsatz einzelner und vieler nicht realisierbar gewesen wäre. Kreativität, also die geistige Fähigkeit zur Reflexion und damit zum bewussten, selbstbestimmten Tun und Gestalten ist es auch, was den Homo sapiens von seinen tierischen Verwandten unterscheidet und worin letztlich die Ursprünge unserer menschlichen Kultur und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens in all ihren Facetten begründet
liegen.